Meeresfrüchte-Gourmets
Neandertaler verdienten ihren Lebensunterhalt an der Küste ähnlich geschickt wie die damals lebenden Menschen
Von Roland Knauer
eingestellt 11.12 2024
„Es sind praktisch keine Verhaltensweisen mehr übrig, in denen Neandertaler sich von den damals lebenden modernen Menschen unterschieden“, ist Dirk Hoffmann von der Universität Göttingen überzeugt. Wie Dominosteine sind in den letzten Jahren frühere Vermutungen über geringere geistige Kapazitäten der ausgestorbenen Cousins unserer eigenen Linie nacheinander umgefallen.
So zeigten Dirk Hoffmann und seine Kollegen im Februar 2018 in der Zeitschrift Science, dass Neandertaler ähnlich wie wir einen Sinn für Kunst hatten. Und jetzt fällt die letzte Bastion der modernen Menschen, die bereits vor 160.000 Jahren an der Küste Südafrikas in großen Mengen Muscheln und andere Delikatessen aus dem Meer holten. Mit solchen maritimen Gourmets konnten die Neandertaler bisher nicht aufwarten, ihre Meeresfrüchte-Bilanz in Europa war recht mager. Joao Zilhão von den Universitäten in Barcelona und Lissabon, Dirk Hoffmann und ihre Kollegen aber stellen jetzt in der Zeitschrift Science (Band 367, Seite 1443) eine Höhle an der Küste Portugals vor, in der Neandertaler Muscheln und andere Delikatessen aus dem Meer in rauen Mengen verspeist hatten. Die Wahrscheinlichkeit scheint hoch, dass auch die Steinheimer Urmenschen-Frau und ihre Verwandtschaft einst ähnliche Ressourcen genutzt haben.
„Heute liegt die Figueira Brava-Höhle rund 30 Kilometer südlich von Lissabon unmittelbar an der Küste“, schildert Dirk Hoffmann die Ausgrabungsstätte. Seit 2010 hat der Forscher zunächst vom Nationalinstitut für die Evolution des Menschen im spanischen Burgos, später vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und inzwischen von der Universität Göttingen diese Höhle immer wieder besucht, um dort Proben für seine Altersbestimmungen zu nehmen. Immer wieder ist in diesen Höhlen Wasser von der Oberfläche auf den Boden gerieselt, aus dem Kalk ausfiel, der mit der Zeit zu einer dünnen Sinterschicht wurde.
In diesem Sickerwasser sind fast immer winzige Mengen des natürlich vorkommenden Urans gelöst. Dieses zerfällt mit der Zeit zu Thorium, das sich nicht in Wasser löst. In einer gerade entstandenen Sinterschicht gibt es also sehr kleine Mengen Uran, aber kein Thorium. Die Mengen an Thorium, die Dirk Hoffmann in diesem Sinter findet, sollten also beim radioaktiven Zerfall des ursprünglich enthaltenen Urans entstanden sein. Solange zwischenzeitlich kein Uran ausgeschwemmt wurde, kann der Physiker daher aus der Menge des gefundenen Thoriums das Alter des Kalks recht genau bestimmen. „Darunter liegende Schichten sollten also etwas älter sein“, erklärt Dirk Hoffmann.
Nach dieser Uran-Thorium-Methode sind die untersuchten Sinterschichten in der Figueira Brava-Höhle zwischen 106.000 und 86.000 Jahre alt. Zwischen ihnen finden die Forscher mehrere, jeweils über rund 4000 Jahre entstandene Ablagerungen, in denen noch viele Überreste der Mahlzeiten der damaligen Höhlenbewohner stecken. Aus dieser Zeit kennen die Forscher zwar einige Funde von Neandertalern, bisher sind aber im europäischen Raum keinerlei Spuren von modernen Menschen aufgetaucht. „Die sehr starken Strömungen in der Straße von Gibraltar dürften daher eventuelle Versuche moderner Menschen, von Afrika aus die Küste der iberischen Halbinsel zu erreichen, vereitelt haben“, vermutet Dirk Hoffmann. Stattdessen dürften solche Abenteurer auf das offene Meer hinaus geschwemmt worden sein. Bei den Bewohnern der Figueira Brava-Höhle kann es sich nach heutigem Stand der Forschung also nur um Neandertaler gehandelt haben.
„In dieser Zeit war es dort zwar ein wenig kühler als heute, aber erheblich milder als auf dem Höhepunkt der Eiszeit“, beschreibt Dirk Hoffmann das Klima dieser Epoche. Damals waren die Gletscher in den Gebirgen und die Eiskappen in hohen Breiten größer als heute und deren zu Eis erstarrtes Wasser fehlte den Weltmeeren, deren Spiegel daher niedriger als heute lag. „In diesen Zeiten lag die Küste daher zwischen 700 und 2000 Metern von der Höhle entfernt“, erklärt Dirk Hoffmann. Ein flacher Hang führte damals von der Höhle zur Küste hinunter, auf dem nach Samen-Analysen der Forscher Pinien und Wacholder wuchsen.
Als nach der Eiszeit der Meeresspiegel wieder anstieg, zerstörte die Brandung einen Teil der ursprünglich viel größeren Höhle. Nur ganz hinten blieben vielleicht fünf Prozent der ursprünglichen Ablagerungen liegen. Dort aber finden die Forscher nicht nur Spuren der Herdfeuer der Neandertaler, sondern auch Überreste ihrer Mahlzeiten. Neben Pinienkernen, die erst nach einer Klettertour in die Baumwipfel geerntet werden konnten, stand auch reichlich Fleisch von Rotwild, Pferden, Steinböcken und Auerochsen auf dem Speiseplan.
Einen sehr großen Teil ihrer Nahrung aber holten die Neandertaler aus dem Meer. So fanden die Forscher die Knochen von Aalen und Haien, die sich im flachen Wasser an der Küste fangen ließen. Aber auch die Überreste von Riesenalken, die verblüffend heutigen Pinguinen ähnelten, und Ringelrobben steckten in den Sedimenten. Diese Tiere zogen wohl im hohen Norden ihren Nachwuchs groß, schwammen aber auch in die milderen Gefilde vor der Küste des heutigen Portugals. Sogar die Knochen von Delfinen haben Joao Zilhão und seine Kollegen bereits entdeckt. „Möglicherweise waren die Neandertaler sogar auf dem Meer unterwegs, um Beute zu machen“, vermutet Dirk Hoffmann.
Ein sehr großer Anteil der Speiseabfälle aber besteht aus den gerösteten Schalen von Taschenkrebsen und vor allem von einer Reihe von Muschel-Arten. „Die Neandertaler waren also ähnlich schlau wie die modernen Menschen der gleichen Epoche an der Küste Süd-Afrikas und nutzten die riesigen Ressourcen des Meeres geschickt“, erklärt Dirk Hoffmann. Damit aber beweisen sie ähnliche geistige Kapazitäten wie ihre Zeitgenossen unter unseren Vorfahren: Schließlich muss man sich bei der Muschel-Ernte nicht nur sehr gut mit Ebbe und Flut auskennen. Gleichzeitig müssen die cleveren Neandertaler auch gewusst haben, in welcher Jahreszeit die Meeresfrüchte giftige Inhaltsstoffe enthalten können.
Die Funde in der Figueira Brava-Höhle entkräften aber auch ein altes Argument für eine vermutete Überlegenheit der modernen Menschen: In der Nahrung aus dem Meer stecken auch reichlich Omega-3-Fettsäuren und andere Inhaltsstoffe, die geistige Kapazitäten fördern. Das Denkvermögen der Neandertaler könnte also durchaus an die Geisteskapazitäten der modernen Menschen der Steinzeit herangereicht haben.
Das gilt vermutlich auch für die Steinheimer Urmenschen-Frau. Nur musste sie vermutlich mangels Meeresküste auf Muscheln und Krebse ausweichen, die im Süßwasser der Bäche, Flüsse und Seen ihrer Heimat lebten. Diese Tiere sind zwar vielerorts in Mitteleuropa in den vergangenen Jahrzehnten aus den Gewässern verschwunden. Aber in Bächen, Flüssen und Seen des heutigen Südwest-Deutschlands lebten zu Zeiten der Neandertaler und der Steinheimer Urmenschen-Frau mit Sicherheit sehr viele Muscheln und Krebse. Das zeigen auch einige Klarwasser-Seen im Nordosten Deutschlands, in denen Muscheln noch heute erhebliche Teile des Grundes bedecken.
Quellen:
Diskussionen mit Dr. Dirk Hoffmann vom Institut Geochemie und Isotopengeologie der Georg-August-Universität Göttingen.
https://www.science.org/doi/10.1126/science.aaz7943