Ein Garn aus der Steinzeit
Bereits Neandertaler verdrehten Fäden zu einem haltbaren Zwirn
Von Roland Knauer
14. Mai 2023
Mehr als 4000 Klingen, Schaber, Speerspitzen und vor allem Feuerstein-Splitter mit messerscharfen Kanten hatten Marie-Hélène Moncel vom Nationalen Französischen Naturkundemuseum in Paris und ihre Kollegen unter einem Felsüberhang in einem Tal in der Nähe des Rhône-Seitenflusses Ardèche ausgegraben. Da die meisten dieser Gerätschaften mit einer „Levallois“ genannten Technik produziert wurden, waren wohl Werkzeugmacher der Neandertaler in der Abri du Maras untergeschlüpft. Archäologen haben bisher in Europa eine ganze Reihe ähnlicher Werkstätten der Steinzeit entdeckt, zunächst einmal schien der Felsüberhang an der Ardèche nicht besonders spektakulär zu sein. Wenn da nicht der sechs Zentimeter große Feuerstein-Splitter G8 128 wäre, an dessen Unterseite die Forscher einen gerade einmal 6,2 Millimeter langen und einen halben Millimeter dünnen Faden gesichtet hatten. Drei Bündel von Pflanzenfasern hatten die Neandertaler umeinander gezwirbelt, um dieses Garn herzustellen, berichten Bruce Hardy vom Kenyon College in Gambier im US-Bundesstaat Ohio, Marie-Hélène Moncel und ihre Kollegen
So unscheinbar ein solcher Faden sein mag, beweist er doch, dass die Neandertaler offensichtlich eine Schlüssel-Technologie der Steinzeit beherrschten: Mit einem aus Pflanzenfasern gezwirbelten Garn lassen sich nicht nur Felle zu Kleidern zusammennähen, sondern auch Seile flechten, einfache Tragetaschen herstellen, Netze für Jagd und Fischfang und etliches mehr fertigen. Während aber Feuerstein-Klingen und andere Werkzeuge die Jahrtausende oft problemlos überstehen, verrottet Pflanzenmaterial rasch. Daher finden Archäologen zwar reichlich Steinwerkzeuge, aber kaum die aus Holz und Pflanzenfasern hergestellten Utensilien des häuslichen Alltags, die sicher auch die Steinheimer Urmenschen-Frau eifrig benutzte.
Auch bei den Ausgrabungen in der Abri du Maras hatten die Forscher unter dem Licht-Mikroskop zwar bereits Pflanzenfasern gesehen, die an Steinsplittern hafteten. Allerdings waren die Überreste so klein und so stark zersetzt, dass Bruce Hardy und seine Kollegen einen Faden nicht zweifelsfrei nachweisen konnten. Der Mini-Faden am Feuerstein-Splitter G8 128 dagegen war viel besser erhalten.
Als sie ihren Fund mit einer ganzen Reihe von Methoden bis hin zur Rasterelektronen-Mikroskopie und Raman-Spektroskopie durchleuchteten, fanden sie nicht nur heraus, dass die Neandertaler damals ihr sehr haltbares Garn bereits ähnlich wie moderne Fäden des 21. Jahrhunderts gezwirbelt hatten, sondern kamen auch dem Material auf die Schliche, aus dem die verwendeten Fasern stammten: Auf der Innenseite der Borke von Kiefern transportieren dünne Leitungen das dort benötigte Wasser in den Baumwipfel und bis in die Nadeln. Außen herum liegen Pflanzenfasern, die aktiv den Wasserdruck in den Leitungen regeln und so beim Hochpumpen des Wassers helfen. Genau diese Fasern haben die Neandertaler anscheinend für ihre Garne verwendet.
Hergestellt haben sie diesen Faden vor rund 41.000 bis 52.000 Jahren, zeigen Datierungen mit Elektron-Spin-Resonanz und der Uran-Thorium-Methode. Damals war das Klima an der Ardèche deutlich kühler und trockener als heute. Auf den Hängen grasten daher vor allem Rentiere und wuchsen Kiefern, deren Pollen die Forscher bei ihren Ausgrabungen fanden. Offensichtlich lieferten diese Nadelbäume den Neandertalern auch Feuerholz, schließen die Forscher aus kleinen Holzkohle-Stückchen, die sie in der gleichen Schicht wie die Feuerstein-Splitter und den Faden fanden.
Über die genaue Verwendung des Garns aus Kiefernrinde können Bruce Hardy und seine Kollegen bisher nur spekulieren. Möglicherweise hatten die Neandertaler den Faden so um den Steinsplitter drapiert, dass er einen Griff bildete, mit dem sie ihr Werkzeug mit den scharfen Kanten einfach und gefahrlos verwenden konnten. Vielleicht hatten sie auch ein Netz oder eine Tasche geflochten und den Feuerstein darin aufbewahrt.
Ältere Fäden und gezwirbelten Garne haben Archäologen bisher nirgends nachgewiesen. Das muss nicht heißen, dass moderne Menschen diese Schlüsseltechnik erst später entwickelten. Es kann auch leicht sein, dass sie, die Neandertaler oder die Steinheimer Urmenschen-Frau Garne bereits viel früher zwirbelten und Forscher bisher nur noch keine stichhaltigen Indizien dafür gefunden haben. Bruce Hardy und seine Kollegen sehen die Garne allerdings als weiteren Hinweis auf die geistigen Kapazitäten der Neandertaler, die den modernen Menschen anscheinend nicht nachstanden.
„Sonderlich überraschend kommen diese technischen Fähigkeiten allerdings nicht“, meint Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Schließlich hatten die Neandertaler oder ihre Vorfahren bereits vor 300.000 Jahre in der Nähe der heutigen Stadt Schöningen nahe der Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt Speere aus Holz gearbeitet, deren Flugeigenschaften, denen der heute bei den Olympischen Spielen genutzten kaum nachstanden. „Diese hohe technische Intelligenz der Neandertaler schließt aber nicht aus, dass es in anderen Bereichen des Denkvermögens durchaus Unterschiede zum modernen Menschen gegeben hat“, überlegt Jean-Jacques Hublin weiter.
Quellen
Diskussionen mit Prof. Dr. Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Bruce Hardy, Marie-Hélène Moncel, Céline Kerfant, Matthieu Lebon, Ludovic Bellot-Gurlet und Nicholas Mélard: Direct evidence of Neanderthal fibre technology and its cognitive and behavioral implications; Scientific Reports (https://www.nature.com/articles/s41598-020-61839-w)