Großfamilie der Steinzeit

In einer Höhle im Altaigebirge lebte nach Erbgut-Informationen eine kleine Gruppe oft eng miteinander verwandter Neandertaler zusammen

Von Roland Knauer

So ähnlich könnte ein Neandertaler mit seiner Tochter vor etwa 54000 Jahren im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens unterwegs gewesen sein. Illustration: Tom Bjorklund

In den fruchtbaren Tälern in den Vorbergen des Altai-Gebirges im Süden Sibiriens jagte die kleine Neandertaler-Sippe vor rund 54.000 Jahren Bisons und Steinböcke, Wildpferde und eine Reihe anderer Tierarten. Wenige Dutzend Kilometer entfernt von ihren Höhlen, in denen sie wohl einige Wochen im Jahr verbrachten, fanden diese engen Verwandten der heute lebenden Menschen Feuerstein, aus dem sie ihre Klingen und Schaber fertigten, mit denen sie ihre Beute zerlegten. Die kleine Gruppe von wohl zehn bis zwanzig Individuen machte daraus Steinwerkzeuge, die denen anderer Neandertaler verblüffend ähnelten, die damals viele Tausend Kilometer weiter in Ost- und Mitteleuropa lebten. Allerdings unterschieden sie sich deutlich von den Feuerstein-Gerätschaften der Artgenossen, die keine hundert Kilometer entfernt in der berühmten Denisova-Höhle zu Hause waren.

Um herauszubekommen, was es mit diesen geheimnisvollen Neandertalern in der Chagyrskaya- und der Okladnikov-Höhle auf sich hatte, bat das Institut für Archäologie und Ethnographie der Russischen Akademie der Wissenschaften lange vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig um Hilfe. Dort hat Svante Pääbo, der frischgebackene Nobelpreisträger und Gründervater der Paläogenetik und damit der Analyse des Erbguts längst verstorbener Menschen und Tiere, ein Team aus Fachleuten unterschiedlicher Fachrichtungen versammelt, das in der Welt seinesgleichen sucht. In der Zeitschrift Nature berichtet jetzt eine Gruppe um die EVA-Forscher Benjamin Peter, Laurits Skov und Svante Pääbo über ihre Erbgut-Analysen und die Schlussfolgerungen, die sie daraus zieht.

Zeitgenossen

Diese Ergebnisse aber sind ein weiterer Paukenschlag in der Paläogenetik: Seit 2010 Svante Pääbo und sein Team das erste Erbgut von Neandertalern veröffentlichten, sind bisher gerade einmal 15 weitere Genome dieser Menschenlinie analysiert worden, insgesamt stammten die bisherigen Analysen aus 14 verschiedenen Fundstellen. Jetzt kommen mit einem Schlag weitere 13 Erbgutanalysen von sieben männlichen und sechs weiblichen Neandertalern dazu, von denen acht erwachsen und fünf im Kinder- und Jugendalter waren. „Mindestens sechs dieser Neandertaler müssen ungefähr gleichzeitig der Chagyrskaya-Höhle gelebt haben“, erklärt der Studienleiter und EVA-Forscher Benjamin Peter. Und vermutlich stammen auch die anderen fünf der in dieser Höhle ausgegrabenen Fossilien von Zeitgenossen.

Ein so genauer Blick in eine Neandertaler-Gruppe ist völlig neu. „Eine Schicht der Funde in diesen Höhlen kann leicht mehrere tausend Jahre umfassen“, erklärt Jean-Jacques Hublin. Der Paläoanthropologe von der französischen Spitzenuniversität Collège de France in Paris war bis Ende 2021 Direktor am EVA und gilt als führender Spezialist für die frühen modernen Menschen und ihre beiden ausgestorbenen Schwesterlinien, die Neandertaler und die Denisovaner. An der Studie von Benjamin Peter und seinem Team war er aber nicht beteiligt.
Bisher wusste also niemand, ob die in einer Schicht gefundenen Fossilien, Steinwerkzeuge und Nahrungsreste wie zum Beispiel die Knochen von Tieren von einer Gruppe stammten, die damals gemeinsam an der Fundstätte lebte oder ob sie vielleicht aus völlig verschiedenen Epochen kamen. „Zwei der Neandertaler in der Chagyrskaya-Höhle aber waren nach den Erbgutanalysen eindeutig ein Vater und seine Tochter“, schildert Jean-Jacques Hublin ein wichtiges Ergebnis der Studie seiner Kollegen.

Verwandtschaften

Das ist aber keineswegs der einzige Hinweis auf Zeitgenossen. „Ein Junge und eine erwachsene Frau waren Verwandte zweiten Grades“, erklärt Benjamin Peter. „Das könnte also eine Großmutter und ihr Enkelsohn, aber auch eine Tante und ihr Neffe oder Cousine und Cousin gewesen sein“, sagt der Studienleiter weiter. Unter den elf aus der Chagyrskaya-Höhle analysierten Individuen waren diese vier aber keineswegs die einzigen Verwandten.

So hatte neben dem Vater der Teenager-Tochter mindestens ein weiterer Menn in der Höhle eine „Heteroplasmie“ genannte Besonderheit im Erbgut, die ebenfalls auf eine relativ enge Verwandtschaft hindeutet. Diese Heteroplasmie zeigt sich nur in den Mitochondrien genannten Mini-Kraftwerken, von denen in vielen Körperzellen einige hundert stecken, die für die Energieversorgung zuständig sind. Diese Zell-Organellen aber stecken nur in den Eizellen der Frau, während die Samenzellen des Mannes keine Mitochondrien an seine Kinder weitergeben. Obendrein haben diese Mini-Kraftwerke ein eigenes, relativ kleines Erbgut, das sich vom restlichen, viel größeren Erbgut in der Zelle gut unterscheidet und das immer nur von der Mutter an ihre Kinder vererbt wird.

Mutationen in den Kraftwerken

Manchmal aber passieren in diesen Mitochondrien zufällig kleine Veränderungen im Erbgut. Eine Frau hat dann in jeder ihrer Eizellen etliche unveränderte, aber auch viele mutierte Minikraftwerke und gibt diese Mischung an ihre Kinder weiter. Auch ihre Töchter geben ein solches Gemisch an ihren Nachwuchs weiter. Allerdings verschwindet eine solche Heteroplasmie relativ rasch wieder, meist ist von den Unterschieden im Mitochondrien-Erbgut schon nach drei oder vier Generationen nichts mehr zu sehen.

Bei den Neandertalern in der Chagyrskaya-Höhle tauchte eine solche Heteroplasmie sogar bei drei Erbgut-Analysen auf. Eine dieser Sequenzen war allerdings mit der DNA des Vaters identisch. Demnach musste es sich entweder um einen anderen Knochen vom gleichen Individuum oder um einen eineiigen Zwillingsbruder handeln. Da das Team keine Möglichkeit hatte, zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu entscheiden, schlossen sie dieses Erbgut aus den weiteren Untersuchungen aus. Übrig blieben dann immer noch der Vater und ein weiterer Mann mit der gleichen Heteroplasmie. „Möglicherweise hatten die beiden eine gemeinsame Großmutter“, liefert Benjamin Peter eine mögliche Erklärung für diesen Fund.

Spuren im Sand

Solche häufigen engen Verwandtschaften in einer einzigen Höhle legen den Schluss nahe, dass es sich um eine Gruppe gehandelt haben könnte, von denen zumindest einige gleichzeitig und der Rest zumindest nicht allzu lange danach im Altai-Gebirge gelebt hat. „Vermutlich lebte damals also eine Gruppe von vielleicht zehn bis zwanzig Neandertalern zusammen, von denen viele miteinander relativ eng verwandt waren“, erklärt Benjamin Peter.

Solche Einblicke in die Sozialstruktur der Neandertaler gab es bisher kaum. Jean-Jacques Hublin nennt ein einziges gutes Beispiel: „Vor rund 70.000 Jahren haben Neandertaler 257 Fußabdrücke direkt am Meer am Fuße von Klippen in der Nähe der heutigen Gemeinde Le Rozel in der Normandie hinterlassen.“ Ein französisches Team hat diese Spuren vor wenigen Jahren ausgewertet und konnte etliche Individuen an der Größe und der Form ihrer Füße identifizieren. Demnach sollten zehn bis 13 Neandertaler dort gelaufen sein, einige von ihnen knieten im feuchten Untergrund und haben sogar die Abdrücke ihrer Hände hinterlassen. „Besonders auffallend waren die sehr großen Fußabdrücke eines vermutlich außergewöhnlich großen Neandertalers, die sich leicht identifizieren ließen“, erklärt Jean-Jacques Hublin. Um solche Erwachsenen, die wohl Beute zerlegten, finden sich die Fußspuren von möglicherweise spielenden Kindern, von denen eines wohl nur zwei Jahre alt war.

Ost-West-Beziehungen

Die Neandertaler vor 54.000 Jahren könnten also eine ähnliche Gruppenstruktur wie ihre Artgenossen vor 70.000 Jahren in der heutigen Normandie gehabt haben. Wer aber waren diese Neandertaler in Sibirien überhaupt? Auch dazu liefern die Erbgut-Analysen eine klare, aber durchaus verblüffende Antwort:
Neandertaler hatten ja schon viel früher im Altai-Gebirge gelebt. So hatten EVA-Untersuchungen in der keine hundert Kilometer entfernten Denisova-Höhle das Erbgut dieser Menschenlinie analysiert, die bereits vor rund 120.000 Jahren dort lebte. Interessanterweise aber zeigte das Erbgut der 13 Neandertaler aus der Chagyrskaya- und der Okladnikov-Höhle keine nähere Verwandtschaft zu diesen frühen Denisova-Neandertalern. Vielmehr stammten die vor 54.000 Jahren dort lebenden Individuen aus der gleichen Neandertaler-Population, die sich vor rund 100.000 bis 115.000 Jahren ausbreitete, deren Erbgut bisher aber aus Ost- und Mitteleuropa bekannt war. Zu den Vorfahren dieser Gruppe aber dürfte auch die Steinheimer Ur-Menschen-Frau gehört haben.

Keine Techtelmechtel

Ähnlich verblüffend ist ein weiteres Ergebnis: In der Denisova-Höhle hatten seit mehr als 200.000 Jahren immer wieder Denisova-Menschen gelebt, die mit den Neandertalern näher als mit den frühen modernen Menschen verwandt sind. In dieser Höhle finden sich aber auch immer wieder Spuren von Neandertaler-Erbgut. Beide Gruppen müssen sich mindestens einmal, vermutlich aber auch öfter direkt begegnet sein. Dafür hat ein Team um Svante Pääbo bereits 2018 einen unwiderlegbaren Beweis gefunden. Vor vielleicht hunderttausend Jahren starb in der Denisova-Höhle ein weiblicher Teenager im Alter von mindestens 13 und höchstens 16 Jahren, dessen Vater ein Denisovaner und dessen Mutter eine Neandertalerin war. Beide Linien konnten also durchaus Kinder miteinander haben.

Umso verblüffender scheint es, dass Benjamin Peter und sein Team in den Neandertalern, die vor 54.000 Jahren im Altai-Gebirge lebten, keinen Gen-Fluss von Denisovanern in den 20.000 Jahren davor finden. „Das hat mich schon sehr überrascht“, meint Benjamin Peter. „Aber vielleicht haben damals keine Denisovaner in der Gegend gelebt“, schlägt er eine Erklärung vor. Techtelmechtel mit den Anderen wären so natürlich ausgeschlossen gewesen.

Große Ähnlichkeiten

„Mit einer weiteren Analyse steigen Benjamin Peter und sein Team erstmals richtig tief in das Sozialleben der Neandertaler ein“, meint Kay Prüfer. Der EVA-Forscher ist Bio-Informatiker und einer der besten Spezialisten für solche Erbgut-Vergleiche, war aber ebenfalls nicht an der Studie seiner Leipziger Kollegen beteiligt: Vergleicht man das Erbgut der Y-Chromosomen, die immer nur von den Vätern an ihre Söhne weiter gegeben werden, mit der DNA der Mitochondrien, die immer nur von den Müttern an ihre Kinder vererbt werden, sticht ein sehr deutlicher Unterschied ins Auge: „Bei den Y-Chromosomen finden wir zehnmal geringere Erbgut-Unterschiede als bei den Mitochondrien“, schildert Benjamin Peter das Ergebnis.

Für einen solchen Befund gibt es nur wenige Erklärungen. So könnten bei der Partnerwahl etliche Männer gar nicht oder kaum zum Zuge gekommen sein, während wenige Männer einen großen Teil der Kinder in der Gruppe gezeugt haben. Gegen diese Überlegung sprechen aber einige Indizien aus dem Erbgut. Viel wahrscheinlicher ist nach den Modell-Rechnungen von Benjamin Peter und seinem Team vielmehr ein anderer Zusammenhang: Leben in einer Gruppe etwa 20 Individuen, von deren erwachsenen Frauen rund 60 bis 100 Prozent aus anderen Gruppen zugewandert sind, kann sich durchaus ein solches Verhältnis ergeben: Da die Männer fast immer in der Gruppe bleiben, in der sie geboren wurden, ähneln sich ihre Y-Chromosomen viel stärker als das immer nur in der weiblichen Linie vererbten Mitochondrien-Erbgut.

Das passt sehr gut zum Bild, das wir von den modernen Menschen haben: „Ähnliche Verhältnisse kennen wir in vielen historischen Gesellschaften und zum Teil bis in die heutige Zeit“, erklärt Jean-Jacques Hublin. „Und auch bei Schimpansen finden wir ein ähnliches Verhalten.“ Die Männchen bleiben in der Regel in ihrer Gruppe, während junge Weibchen der Wandertrieb packt, sobald sie die Pubertät erreichen. Dann schließen sie sich oft anderen Gruppen an. „Ein ganz ähnliches Verhalten findet man für moderne Menschen, wenn man deren Erbgut aus Gräberfeldern der letzten Jahrtausenden analysiert“, ergänzt Kay Prüfer. „Auch in diesen Gruppen waren die Frauen oft aus weiter entfernten Gegenden gekommen, während die Männer zuhause blieben“, erklärt der Bio-Informatiker weiter. Offensichtlich war es bei den Neandertalern vor 54.000 Jahren im Altai-Gebirge also ähnlich. Und vielleicht hatte ja auch die Steinheimer Ur-Menschen-Frau einst die Gruppe ihrer Familie verlassen und sich irgendwo am Neckar und an der Murr einer anderen Sippe angeschlossen?

Geringe Unterschiede

Noch etwas ist Benjamin Peter und seinem Team im Erbgut der Altai-Neandertaler aufgefallen. In allen Erbgut-Analysen fanden sie sehr viele lange Abschnitte mit gleichem Erbgut. Das aber ist typisch für kleine Populationen, in denen das Angebot an möglichen Partnern knapp ist. In solchen Situationen haben zwangsläufig relativ häufig entfernte Verwandte miteinander Kinder.
Bei einem Vergleich zwischen etlichen Menschen-Gruppen und verschiedenen Gorilla-Populationen fand das Team um Benjamin Peter nur bei den Berggorillas in Zentralafrika eine noch höhere Ähnlichkeit im Erbgut als bei den Neandertalern im Süden Sibiriens. Von den Berggorillas aber leben keine tausend Individuen auf der Welt, die Art gilt als unmittelbar vom Aussterben bedroht. Könnte es bei den Neandertalern im Altai-Gebirge vielleicht ähnlich gewesen sein? Immerhin lebte die untersuchte Gruppe am äußersten östlichen Rand der damaligen Neandertaler-Welt, die im Westen an der Atlantikküste endete. Viel Kontakt mit Artgenossen scheint sie jedenfalls nicht gehabt zu haben. Wie es bei anderen Gruppen aussah, das wird man hoffentlich in Zukunft von neuen Analysen erfahren, die vermutlich am Max-Planck-Institut in Leipzig schon vorbereitet werden.

Quellen:
Diskussionen mit Dr. Benjamin Peter und Dr. Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, sowie mit Prof. Dr. Jean-Jacques Hublin von der französischen Spitzenuniversität Collège de France in Paris.

Laurits Skov, Stéphane Peyrégne, Divyaratan Popli, Leonardo N. M. Iasi, Thibaut Devièse, Viviane Slon, Elena I. Zavala, Mateja Hajdinjak, Arev P. Sümer, Steffi Grote, Alba Bossoms Mesa, David López Herráez, Birgit Nickel, Sarah Nagel, Julia Richter, Elena Essel, Marie Gansauge, Anna Schmidt, Petra Korlević, Daniel Comeskey, Anatoly P. Derevianko, Aliona Kharevich, Sergey V. Markin, Sahra Talamo, Katerina Douka, Maciej T. Krajcarz, Richard G. Roberts, Thomas Higham, Bence Viola, Andrey I. Krivoshapkin, Kseniya A. Kolobova, Janet Kelso, Matthias Meyer, Svante Pääbo & Benjamin M. Peter: Genetic insights into the social organization of Neanderthals: Nature, Band 610, Seiten 519 – 525
https://www.nature.com/articles/s41586-022-05283-y)

Bildinformation:

Titelbild:
So ähnlich könnte ein Neandertaler mit seiner Tochter vor etwa 54000 Jahren im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens unterwegs gewesen sein
Illustration: Tom Bjorklund

In der Chagyrskaya-Höhle im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens lebte vor etwa 54000 Jahren anscheinend eine kleine Neandertaler-Sippe (Foto: Bence Viola)
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